Zwei Stunden sind seit unserer Abfahrt aus Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, vergangen.

Scheikh Zedo Baedri, unser Begleiter, ein jesidischer Würdenträger der längere Zeit in Deutschland verbracht hat, macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns den sogenannten „umstrittenen Gebieten“ nähern – also jenen Territorien, welche sowohl von Kurden wie auch von Arabern beansprucht werden.

Grund genug, ein wenig über die staatliche Verfasstheit des Irak zu spekulieren. Bei meiner gestrigen Einreise habe ich einen irakischen Stempel in meinem Reisepass erhalten, aber niemand verlangte das obligatorische Visum für den Irak. Auch sind hier in den Kurdischen Autonomiegebieten nirgendwo die Symbole des irakischen Staates, der nach dem Ersten Weltkrieg von der reisenden britischen Jungfer Gertrude Bell - einer Orientalistin von beträchtlichem Niveau, die höchstwahrscheinlich im Auftrag des Geheimdienstes ihrer Majestät agierte - erfunden wurde, zu sehen.

Dafür lächelt Masud Barzani milde von den Hauswänden und Checkpoints der vorbeiziehenden Dörfer und Stützpunkte. Der Präsident von Irakisch-Kurdistan hatte nach einem Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 einen eigenen Staat ausrufen wollen, musste aber nach politisch-militärischem Druck aus Bagdad zurücktreten.

Dennoch ist der Vorsitzende der Regierungspartei PDK der starke Mann der Kurden im Irak geblieben und hält die Zügel in der Autonomen Region fest in seiner Hand. Während seiner Amtszeit gelang es ihm, die innerkurdischen Spannungen abzumildern, und sogar mit seinem Gegenspieler Dschalal Talabani einen Burgfrieden zu vereinbaren.

Barzanis Herrschaftsgebiet entwickelte sich so zu einer lebenswichtigen Transitzone zwischen Anatolien und dem Zweistromland, in der die Bevölkerung - auch dank lukrativer Erdölgeschäfte - einen bescheidenen Wohlstand genießt. Es besteht sogar ein für die Region ungewöhnlich hoher Grad an Meinungsfreiheit, wenn man sich auch nicht zu kritisch mit dem Thema Korruption - von der der Barzani-Clan zweifelsohne befallen ist - beschäftigen oder gar unangenehme Fragen in diese Richtung stellen sollte. Dann sei es nämlich schnell vorbei, mit der politischen Toleranz und der Meinungsfreiheit, bestätigen kritische Intellektuelle in Erbil.

In den Städten und Dörfern, die wir durchfahren, herrscht rege Geschäftigkeit, die Sonne scheint an diesem Wintertag mild vom strahlend blauen Himmel. Ziegenherden streunen über die Wiesen, zahlreiche Stände bieten ihre Waren zum Verkauf an. Es ist schwer vorstellbar, dass diese Region vor vier, fünf Jahren von den anstürmenden Horrortruppen des Islamischen Staates überrannt wurde, die erst 40 Kilometer vor Erbil gestoppt werden konnten.

Die überraschende Eroberung der nahen Ölmetropole Mossul sowie der sunnitischen Nordprovinzen durch die Fanatiker, schuf eine Schneise aus Tod und Zerstörung, wodurch die ohnehin brüchige Verbindung nach Bagdad weitgehend zerrissen wurde.

Der Traum der Kurden nach einer staatlichen Unabhängigkeit ist alt, aber erst mit dem Eingreifen einer US-geführten Koalition im Zweiten Golfkrieg 1991 rückte dieser in greifbare Nähe. Durch Washingtons Unterstützung konnten sie eine Armee aus ihren Peschmerga aufstellen – jenen legendären Freischärlern, deren Kampfkraft gefürchtet und bewundert wird.

Die Tatsache, dass die Amerikaner die Kurden fallen ließen, nachdem sie sie zuvor zum Aufstand gegen Saddam Hussein angestachelt hatten und dadurch eine beispiellose humanitäre Katastrophe hervorriefen, wurde von den Menschen hier natürlich nie vergessen. Ihre Lehre aus der Geschichte: Wir können uns nur auf uns selbst verlassen. Man darf sich daher nicht darüber wundern, dass über der Ninive-Ebene, durch die unser Wagen jetzt rollt, die rot-weiß-grüne-Flagge mit der Sonne im Mittelpunkt weht – also die kurdische, statt der irakischen.

Jetzt befinden wir uns in den umstrittenen Gebieten des Nordirak. Neben der Fahrbahn erstrecken sich Peschmerga-Stützpunkte wie Maulwurfshügel in die Landschaft. Die Großstadt Mossul, die erst im Jahr 2017 in blutigen Straßenkämpfen vom IS befreit werden konnte, liegt nur 30 Kilometer entfernt. Die Peschmerga rückten teilweise schon im 3. Golfkrieg, also 2003, in die heutigen Positionen vor, dauerhaft aber erst nach der Zerschlagung und Verdrängung des IS. Das Diktum von Mao Zedong, wonach die Macht aus den Gewehrläufen kommt, scheint bei den Kurdischen Kämpfern nichts an Aktualität verloren zu haben.

In der Ferne taucht eine Bergkette auf, zu deren Füßen sich eine Stadt schmiegt. “Das ist Alqosh“, sagt der Fahrer und bremst vor dem Peschmerga-Checkpoint ab, der mit der kurdischen Fahne und einem Barzani-Bild geschmückt ist. Der Soldat, bewaffnet mit einem Maschinengewehr, schaut kurz in das Wageninnere und tauscht einige Belanglosigkeiten mit dem Fahrer aus. Unsere Ankunft wurde vorher schon angemeldet, andernfalls hätten wir nicht so einfach passieren können.

Damit komme ich überall durch“, scherzt der Fahrer, ein junger Mann, der in Erbil lebt und sich mit Fahrdiensten sein Chemie-Studium finanziert während er auf das chaldäische Kreuz zeigt, welches an seinem Rückspiegel hängt. Alqosh ist das Zentrum der Chaldäer, auch über dem improvisierten Eingangstor zur Stadt thront ihr Kreuz. Bei dieser Volksgruppe, in früheren Zeiten auch als Assyrer bezeichnet, handelt es sich nicht um Kurden, es wird Arabisch und teilweise Aramäisch - die Sprache Jesus Christus´ - gesprochen.

Trotzdem sind die Gläubigen dieser mit der römisch-katholischen Kirche unierten Religionsgemeinschaft für den Schutz durch die Peschmerga dankbar - besonders nach den Erfahrungen der letzten Jahre.

Dieses bestätigt auch Mikha Pola Maqdasi, der Bischof von Alqosh, als er uns in seiner Residenz empfängt. Bekleidet mit schwarzer Soutane und dem traditionellen Schulterkragen, der Pellegrina, ist er eine elegante Erscheinung und drückt sich in akzentfreiem Französisch aus.

Der Bischoff lobt das Engagement von Sylvia Wähling für die Menschen in der Region, die Leiterin des Menschenrechtszentrums Cottbus ist zu Tränen gerührt. Der Geistliche macht aus seinen politischen Ansichten keinen Hehl. Sollten Alqosh und die Ninive-Ebene auch faktisch wieder unter die Herrschaft Bagdads geraten, unter der sie sich rein staatsrechtlich noch immer befinden, würden die Christen die Region verlassen, betont er und verweist auf die unsichere Lage für Christen im Rest des Landes.

Die Äußerungen des Bischoffs rufen mir das statistische Zahlenmaterial ins Gedächtnis, welches ich vor der Reise studiert hatte. Nach dem Einmarsch der Amerikaner 2003, die angeblich einen „Leuchtturm der Demokratie“ (Präsident George W. Bush) errichten wollten, haben die Christen die Flucht ergriffen. Schon vor dem Auftauchen des IS haben Tausende aus Städten wie Mossul und Bagdad in der Autonomen Kurden-Region Schutz gesucht. Lebten 2003 noch über eine Million Christen im Land, sind es heute nur noch knapp über 200.000 - mit abnehmender Tendenz.

Warum betreibt Europa eine so christenfeindliche Politik, weshalb pflegt der Westen eine so enge Komplizenschaft mit Saudi-Arabien, von wo doch die Gelder herstammen, die den Aufstieg des IS begünstigten?“ fragt uns ein Mitarbeiter des Bischofs, als wir den Amtssitz verlassen.

Weshalb blieben die Ninive-Ebene und die Stadt Alqosh immer eine christliche Hochburg, was auch der Terror des IS nicht verhindern konnte? Diese Frage wird unter anderem dadurch unterstrichen, dass hier seit dem Sommer 2017 Lara Yussif Zara als Stadtoberhaupt amtiert – die erste christliche Bürgermeisterin im Irak überhaupt.

Die Begrüßung durch die Bürgermeisterin im Rathaus von Alqosh, auf dessen Dächern die Fahnen Kurdistans und des Iraks einträchtig nebeneinander wehen, ist herzlich. In ihrem Büro bewegen sich Peschmerga neben Vertretern des irakischen Militärs. Die überwiegend jungen und männlichen Mitarbeiter tragen teilweise Chaldäer-Kreuze als Tattoo am Hals.

Lara Yussif, eine attraktive Mitdreißigerin, strahlt Lebenslust und Energie aus. Sie trägt ein gutgeschnittenes feuerrotes Kostüm, die braunen Locken fallen ihr spielerisch über die Schultern. Die Bürgermeisterin verfügt über eine Art Heldenstatus: Während des Vormarsches des IS blieb sie als einzige Frau mit zehn Kämpfern vor Ort, während die Bevölkerung panikartig die Stadt verließ. Mit der Waffe in der Hand verteidigte sie Alqosh gegen die Dschihadisten - die Front verlief damals nur einen Steinwurf entfernt.

Nicht nur die Menschen, auch die christlichen Kulturgüter aus der Frühphase unserer Religion waren in höchster Gefahr, wie die Zerstörungswut der sunnitischen Fanatiker andernorts bewies. Nach dem Termin im Rathaus schlägt Sylvia Wähling einen Ausflug ins berühmte Höhlenkloster Raban Hormuzd vor, welches aus dem 7. Jahrhundert stammt und nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegt.

Nach der Wanderung durch das Terrain verweile ich einen Augenblick auf der Balustrade und genieße den beeindrucken Blick über Alqosh und die Weiten der Ninive-Ebene. Die Sonne strahlt jetzt kräftig, taucht die Landschaft in ein gleißendes Licht und bietet eine Vorahnung auf die drückende Hitze, die im Sommer alltäglich ist. Bei dieser Gegend handelt es sich um eines der ältesten Siedlungsgebiete der Menschheit.

Scheikh Zedo Baedri hat sich zu mir gesellt. "Von hier unten kamen die Truppen des Islamischen Staates. Und hier brachten wir sie zum Stillstand. Hier kämpfen wir auch für Euch in Europa – warum wird das eigentlich nicht begriffen?" fragt er mich und schaut mir dabei ernst ins Gesicht.

Der dritte Teil folgt kommende Woche.

Hier geht es zum ersten Teil des Reiseberichts

Hier geht es zum dritten Teil des Reiseberichts

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